Pustekuchen

ein Essay über die Sinnhaftigkeit der Erbsündenlehre

von Pastor Arne Findeisen 9/2015

Pustekuchen. Merkwürdiges Wort. Vor allem am Anfang eines Essays zum Thema Erbsünde. Pustekuchen. Dieses Wort habe ich in der Vergangenheit ab und zu benutzt. Es hatte seinen Sitz in meinem Leben. Ich habe es gebraucht in dem Sinn, den ich gelernt habe: von wegen, das ist nichts oder: daraus wird nichts. Meine Zuhörer verstanden, was ich sagen wollte.

Pustekuchen. Ich merkte aber auch, dass es einen Zuhörer braucht, der die Bedeutung dieses Wortes kennt, damit es verstanden wird. Sagt man es zu einem Kind, das das Wort zum ersten Mal hört, wird es das wohl lustig finden, es wiederholen und in die Hände klatschen, aber nicht den Sinn dahinter verstehen. Ebenso wird es einem Ausländer ergehen, der diese Redewendung noch nie gehört hat. „Pustekuchen“ braucht eine Erklärungsschleife, weil bei wörtlichem Verständnis nur Fragezeichen bleiben.

Pustekuchen. Ich habe dieses Wort in der Vergangenheit gebraucht, ohne mir viele Gedanken zu  machen. Solange man sich im Haus mit Leuten unterhält, mit denen man sich versteht, geht das auch ohne weitere Probleme oder Fragen. Anders wird es, wenn Neue dazu kommen. Kinder von innen. Andere von außen. Man liest und hört dieses Wort mit deren Augen und Ohren. Man wechselt die Perspektive. Man verlässt Gängiges. Man zieht aus dem Haus der Gewohnheiten aus. Gewohntes erscheint in einem anderen Licht, wird fragwürdig.

Wer fragt, sucht nach Antworten. Im Wikipedia-Artikel zu „Pustekuchen“ finden sich zwei Erklärungen für dieses seltsame Wort und seine Entstehung. Die erste Erklärung nimmt an, dass es sich um eine Verballhornung einer jiddischen Redewendung handelt. Trotz grober verbaler Entstellung wurde die Bedeutung des jiddischen Originals weiter transportiert. Die andere Erklärung geht davon aus, dass J.W. von Goethe diesen Ausdruck gebrauchte, um seinen prominenten und erfolgreichen Widersacher J.F.W. Pustkuchen lächerlich zu machen.

Es war also 1. ein Übersetzungsfehler/Missverständnis und/oder 2. ein persönlicher Streit, aus dem „Pustekuchen“ geboren wurde. Mit dieser doppelten Möglichkeit ist dieser Begriff eine Steilvorlage für das, was es über die Erbsündenlehre zu sagen gibt. Wenn es um Erbsünde geht, so werden wir sehen, haben wir es mit Übersetzungsfehlern und Missverständnissen zu tun. Außerdem ist das, was wir traditionell als Erbsündenlehre bezeichnen, Resultat eines theologischen Streites, den der Kirchenvater Augustinus mit Pelagius, einem Mönch keltischer Herkunft, Anfang des 5.Jh.s ausgetragen hat. Dazu später mehr.

Ähnlich wie mit „Pustekuchen“ ging es mir mit der Erbsündenlehre. Ich habe sie geglaubt und vertreten, ohne mir viele Gedanken zu machen. Im Hause von Gleichgesinnten geht das ohne weitere Probleme oder Fragen. In den letzten Jahren hat sich meine Perspektive verändert. Ich begann zu fragen wie ein Kind, das noch viel wissen will. Wie ein Reisender, der seine Heimat als Neuland wahrnimmt. Ich begann zu suchen wie jemand, der noch nicht gefunden hat. Ich wurde in eine Außensicht versetzt, die das Innen verlässt und nun anders auf das Haus des Glaubens schaut.

Ausgelöst und verändert wurde das durch meine Beschäftigung mit dem, was die Christen des iro-schottischen Kulturkreises an Prägung ausmacht. „Keltische Spiritualität“ könnte man sagen, wobei dieser Begriff zu wenig Vorchristliches und Christliches zu unterscheiden vermag. Was nicht unbedingt als Schwäche angesehen werden muss. Christlicher Glaube wird immer von der Kultur gefärbt, in die er eintritt.

Die drei Typen von Kirche

Ich lernte eine Sicht auf die westlichen Ausprägungen der christlichen Kirche kennen, die aus 3 verschiedenen Typen besteht. Jedem Typ wird ein Thema und ein Apostel (mit dem entsprechenden biblischen Schriftgut) zugeordnet: Typ 1 ist die römisch-katholische Kirche mit dem Thema „Gesetz“ und Petrus als Galionsfigur. Typ 2 ist die protestantische Kirche mit dem Thema „Rechtfertigung aus Glauben“ und Paulus als Apostel. Typ 3 ist die keltische Kirche. Das Thema der keltischen Kirche ist die „Liebe (Gottes)“. Der apostolische Bezugspunkt ist Johannes.

Während eines Familienurlaubs in Cornwall gingen wir regelmäßig über Friedhöfe. Auffällig waren die Keltenkreuze, manche mit Flechtmustern verziert, andere ganz schlicht. Auffällig waren auch Grabsteine mit der Inschrift „God is Love“. Gott ist Liebe. Hat man so eine Inschrift schon in Deutschland gesehen? Cornwall ist zusammen mit Wales und Schottland ein Rückzugsgebiet der keltischen Tradition auf der britischen Insel.

Die oben ausgeführte Typen-Lehre hat sich mir immer wieder als hilfreich und wahr erwiesen. Dabei geht es nicht um eine ausschließende Sicht. Die Themen und der Bezug zu den Aposteln sind nicht exklusiv zu verstehen. Das Thema „Gesetz“ ist z.B. auch in der keltischen Kirche zu finden, aber anders einsortiert und mit einem anderen Stellenwert. Es geht bei den verschiedenen Typen also jeweils um einen akzentuierenden Schwerpunkt, der alles andere entsprechend gewichtet.

Erweitert man das Format der Typen-Lehre Richtung Osten, wird man feststellen, dass es eine freundliche Brücke gibt, die die orthodoxen Ostkirchen mit der keltischen Kirche verbindet. Diese Verbindung ist historisch gewachsen und wird uns auch in der Einschätzung der Erbsündenlehre wieder begegnen.

Wesen und Merkmale keltischen Glaubens

Um die Ausprägung der keltischen Kirche zu verstehen, muss man sich klar machen, dass wir es kulturatmosphärisch mit einer besonderen Ausprägung zu tun haben. Denn diese Art hat sich in einem Klima entwickelt, das gänzlich der römisch-imperialen Wetterzentrale entzogen war. Irland war nie Teil des römischen Reiches. Der Hadrianswall hat im Norden der britischen Insel die Grenze markiert, die das römische Reich von den keltischen Barbaren, den sog. Pikten, trennte. Irland und große Teile Schottlands waren dem Zugriff Roms also entzogen. Zuerst politisch. Nach dem Untergang des römischen Reiches auch kirchlich. Wer es anschaulich möchte, schaue auf die Karte am Anfang eines jeden Asterix-Heftes: unter der Lupe sieht man das kleine gallische (keltische!) Dorf, das sich den Machtansprüchen Roms entzieht. Dieses Dorf bildet im Kleinen ab, was für Irland und Schottland im Großen gilt. Diese politische Lage prägte konsequenterweise auch die Umstände, in denen sich in Irland und Schottland der christliche Glaube ausprägte und entwickelte. Die keltische Kirche konnte sich ohne den mit den Jahrhunderten wachsenden Einfluss der römisch-katholischen Kirche frei entfalten. Das Jahr 664 markiert für die britische Insel einen Wendepunkt in dieser Hinsicht. Auf der Synode von Whitby wurde die römisch-katholische Tradition vorherrschend. Die keltische Kirche wurde an den Rand gedrängt und dort zerrieben. Was von ihr übrig blieb, überlebte im spirituellen Untergrund. Es gab immer wieder Zeiten und Menschen, in denen sich dieses Erbe aus der Asche neu belebte und als Glut der Tradition weitergegeben wurde. So entstand z.B. eine umfangreiche Sammlung der altirischen Segenssprüche, die sich heute großer Beliebtheit erfreuen.

Diese Segenssprüche waren es auch, die meine Aufmerksamkeit und mein bleibendes Interesse an Keltischem wach riefen. Ich fand darin einen geerdeten Glauben. Glaube im Hier und Jetzt. Gott durchwirkt den Alltag. Jede Kleinigkeit und jede Großartigkeit wird in die Sphäre des Glaubens gestellt. Mit der segnenden Gegenwart Gottes wird alles verwoben, was das Leben ausmacht. Die Bildsprache ist elementar und poetisch. Davon wollte ich mehr. Ich spürte, dass darin etwas liegt, was meinen Glauben bereichern kann.

Aus dem Kennenlernen des keltisch-christlichen Glaubens ist ein Liebhaben geworden. Immer wieder wird mein Inneres angerührt und inspiriert von Gedanken, Gedichten und Geschichten dieser Art. Ob damit etwas angesprochen wird, was ich über meine Mutter Ruth geb. MacKenzie im Blut habe? Mein Großvater wanderte im letzten Jh. von Schottland in die Schweiz aus. Meine Mutter wurde in St.Gallen geboren, eine Stadt, die im 6.Jh. von einem iro-schottischen Mönch namens Gallus gegründet wurde.

Was sind die Kennzeichen des christlichen Glaubens keltischer Prägung?

Grundsätzlich gesagt: der keltisch-christliche Glaube hält zusammen. Er hält das zusammen, was nach meiner Wahrnehmung im Glauben und Leben vieler Menschen heute auseinander fällt oder auseinander gefallen ist. Auch bei mir.  Aus der Fülle seien drei Kennzeichen ausgewählt:

Himmel und Erde werden zusammen gehalten: höre ich Himmel, denke ich: oben. Höre ich Erde, denke ich: unten. Vielleicht liegt das an der mangelhaften Möglichkeit einen Unterschied zu machen, wenn es um das Wort „Himmel“ geht. Im Englischen unterscheidet man „sky“ (sichtbar) und „heaven“ (unsichtbar). „Himmel“ heißt im Hebräischen „schamajim“, das in sich eine duale Bedeutung hat (also weder Singular noch Plural ist), etwas Zweifaches in einem Wort vereint. Gott schuf „Himmel und Erde“. Dieser Satz aus der Schöpfungsgeschichte hat nichts mit „oben und unten“ zu tun. Er sagt aus, dass Gott alles geschaffen hat. Es wird damit eine ausnahmslose Einheit beschrieben.

Diese Einheit finde ich im Denken und Glauben der keltischen Christen wieder. Himmel und Erde sind nicht getrennt. Sie bilden eine Einheit von Unterschieden. Der Himmel trägt irdische Züge und die Erde trägt himmlische Züge. Himmel und Erde sind verschränkt, nicht getrennt. Keine Grenze. Psalm 139 ist für dieses Denken und diesen Glauben ein Paradebeispiel: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ Kein oben und kein unten. Gott ist gegenwärtig wie die Luft, die mich unsichtbar umgibt, die ich unbewusst ein- und ausatme. Gott ist nicht fern. Gott ist nah. Gott ist meine Umgebung. „Himmel“ ist nicht „dort“ oder „dann einmal“. „Himmel“ ist hier und jetzt. Mitten drin im Irdischen.

 Der Morgensegen des Heiligen Patrick nimmt diese Einheit in Anspruch und macht sie persönlich:

 Ich erhebe mich heute mit einer großen Kraft.Ich rufe die Dreieinigkeit Gottes an.

Ich glaube an seine Dreiheit. Ich bekenne seine Einheit. Er ist mein Schöpfer. 

Ich erhebe mich heute in der Kraft Gottes, die mich lenkt. Gottes Macht halte mich aufrecht, Gottes Weisheit führe mich, Gottes Auge schaue auf mich, Gottes Ohr höre mich, Gottes Wort spreche für mich, Gottes Hand schütze mich, Gottes Weg liege vor mir, Gottes Schild schirme mich, Gottes Heerschar rette mich.

Christus sei mit mir. Christus sei vor mir und hinter mir. Christus sei in mir, Christus sei unter mir und über mir. Christus sei mir zur Rechten, Christus sei mir zur Linken. Christus sei, wo ich liege, Christus, wo ich sitze, Christus, wo ich mich erhebe. Christus sei im Herzen eines jeden, der meiner gedenkt. Christus sei im Munde eines jeden, der von mir spricht, Christus in jedem Auge, das mich sieht, Christus in jedem Ohr, das mich hört.

Ich erhebe mich heute in einer großen Kraft. Ich rufe die Dreieinigkeit Gottes an. Ich glaube an seine Dreiheit. Ich bekenne seine Einheit. Ich gehe meinen Weg in der Kraft dessen, der mich schuf.

Diese Worte leiten gelungen über zum nächsten Kennzeichen des keltischen Glaubens: der dreieinige Gott wird zusammen gehalten. Der Glaube der keltischen Christen ist von Anfang an wesensmäßig trinitarisch gewesen und geblieben. Ich beobachte gegenwärtig in theologischen Ausprägungen eine fortgeschrittene Dividierung der Trinität. Die liberale Theologie ist Vater-affin. Evangelikale profilieren ihren Glauben an Jesus als Sohn Gottes. Charismatiker und Pfingstler legen Wert auf den Heiligen Geist und dessen Wirken. Diese Einteilung mag zu einfach, zu grob und darum zu unangemessen erscheinen. Es ist wohl so wie bei den 3 Kirchen-Typen, von denen weiter oben die Rede war: es gibt keine Reinkultur, sondern es werden sich in jeder Form auch Inhalte von anderen finden lassen.

Vielleicht wird von einer anderen Seite her deutlicher, was ich mit diesem Kennzeichen des keltischen Glaubens meine: Ich habe nie zuvor einen Glauben kennengelernt, der sich so selbstverständlich und gesund trinitarisch ausgeprägt hat. Der Baum des keltischen Glaubens hat trinitarische Wurzeln und trägt trinitarische Früchte. Dieser Glaube hat mit dem vorchristlichen Erbe zu tun: die Kelten glaubten in vorchristlicher Zeit an einen dreigesichtigen Gott. Die Lehre der Dreieinigkeit wurde somit positiv aufgenommen und in die vorhandene kulturelle Prägung ohne Probleme integriert.

Noch einmal Urlaub in Cornwall: es war erstaunlich, wie viele Ortsnamen die Vorsilbe „Tri“ oder „Tre“ hatten. „Tri“ ist im Gälischen das Wort für „drei“. Trinitarische Verortung trivialen Lebensraumes?

Ein weiteres Kennzeichen des keltischen Glaubens: der Mensch wird zusammen gehalten. Modern würde man von einer ganzheitlichen Sicht des Menschen reden. Leib, Seele und Geist werden nicht voneinander getrennt oder in Konkurrenz zu einander gesetzt. Es gibt keine Abwertung oder Geringschätzung menschlicher Wesensmerkmale.

Und: der Mensch wird als Gottes Ebenbild angesehen. Der Mensch ist – wie die gesamte Schöpfung auch – gut gemeint und gemacht. Gutsein entspricht dem menschlichen Wesen, das mit diesem Qualitätsmerkmal dem Schöpfer Ehre macht. Mich hat diese positive Sicht auf den Menschen sehr beeindruckt. Das Böse und die Sünde werden in ihrer Macht und ihrer Einwirkung auf den Menschen nicht herunter gespielt. Aber es ist nicht so, dass dadurch die Gottesebenbildlichkeit und das Gutsein des Menschen in Abrede gestellt werden.

Stellen Sie sich vor, Sie gehörten zu den ersten menschlichen Wesen auf dieser Erde und hätten noch nie einen anderen Menschen gesehen. Weder sich selbst (im Wasserspiegel) noch jemand anderen. Sie laufen durch die Gegend und Ihnen kommt, vielleicht auf einem einsamen Bergpfad, ein Mensch entgegen. Wie anders als alles, was Sie bisher gesehen haben, muss Ihnen das Angesicht des Menschen erscheinen, der Ihnen begegnet. Es ist schön. Es ist besonders. Es trägt etwas Wunderbares in sich. So beeindruckend andere Kreaturen auch sein mögen, an das, was den Menschen ausmacht, reicht nichts heran. Das Angesicht des Menschen trägt die Spuren Gottes. Es ist eine Spiegelfläche der Ebenbildlichkeit Gottes. Es lohnt sich, einen Menschen am Tag so anzusehen. Und wenn es mehr werden, schadet es nicht.

 Als ich diesen menschenfreundlichen Gedanken sonntags in einer Predigt äußerte, sagte eine Frau am Ausgang zu mir, dass sie gehört bzw. gelernt hätte, dass „Grüß Gott“ eine Kurzform sei von „Grüß Dich, Gottes Angesicht“. Leider hat sich diese Äußerung noch nicht als belastbar erwiesen. Es gibt allerdings  die These eines renommierten Mundartforschers, dass „Grüß Gott“ auf den Einfluss iro-schottischer Mönche im süddeutschen Raum zurück gehe. Das Gälische kennt einen Gottesbezug im täglichen Gruß.

Wir haben nun ein Wesensmerkmal  und drei Kennzeichen des christlich-keltischen Glaubens kennen gelernt. Das Wesensmerkmal: er hält zusammen. Er hält 1. Himmel und Erde, 2. Gottes Dreieinigkeit und 3. den Menschen als Leib, Seele und Geist zusammen. Das Ganze mündet ein in eine intensive Art von Menschenfreundlichkeit.

Diese menschenfreundliche Art hat mich in besonderer Weise beeindruckt und ins Fragen gebracht. Warum denke ich vom Menschen nicht auch so? So positiv. So würdig. So einzigartig.

Erbsünde – den Traditionsfaden aufrollen

In der Confessio Augustana (CA) von 1530 haben die Protestanten ihren Glauben verschriftet. Man könnte sagen, es ist das erste evangelische Glaubens-Manifest. Martin Luther hat es zwar nicht verfasst, aber dessen Inhalt gekannt und gebilligt. Die CA ist kein Buch unter anderen: auf die Bibel als Heilige Schrift und auf die CA werden noch heute Pastorinnen und Pastoren in Ihrer Ordinationsfrage verpflichtet.

Am Anfang der CA steht der Artikel von Gott (de Deo), danach kommt ein Artikel über die Erbsünde (de peccatum originale). Der dritte Teil behandelt Jesus und sein Erlösungswerk (de filio Dei). Vom Menschen ist hier nur insofern die Rede, als er Sünder ist und der Erlösung bedarf. Damit ist – so scheint es – das Wichtigste über den Menschen gesagt und ausreichend beschrieben. Wenig positiv. Wenig würdig. Wenig einzigartig.

Die Erbsündenlehre wie sie die Protestanten im 16 Jh. übernommen haben, ist eine Erfindung (ja, ich nenne es so und werde das auch beweisen) des Kirchenvaters Augustin (354-430 n. Chr.). Augustin sieht die Menschheit als einen einzigen großen Sündenklumpen an, aus dem heraus Gott in souveräner Weise Menschen erwählt und rettet. Souverän heißt so viel wie: nicht (mit menschlicher Vernunft) nach zu vollziehen, nicht zu hinterfragen. Gott ist so etwas wie ein römischer Imperator, der allein und willkürlich entscheidet. Er braucht keine Vernunftgründe. Hinterfragen wäre Mäjestätsbeleidigung. Und die anderen „Untertanen“? Die Zukunft des großen Menschheitsrestes ist die ewige Verdammnis. Ich ahne, wo und wie sich die Kombination von höchster Gottesverehrung und tiefster Menschenverachtung in einer Theologie festsaugen kann.

Man kann auch andere Gedanken bei Augustin finden. Sie stammen vom „frühen“ Augustin. Diese eben geschilderte Sicht ist seine endgültig entfaltete, „ausgereifte“ könnte man – so sachlich wie zynisch – sagen. Er hat sie entwickelt und nie mehr widerrufen oder verändert.

Grundlage dieser Sicht auf den Menschen bzw. die Menschheit ist die sog. Erbsündenlehre. Augustin lehrt, dass seit dem Sündenfall Adams (Eva wird in diesem Zusammenhang übrigens nie erwähnt) alle Nachkommen von dieser (ersten, originalen) Sünde durch und durch verdorben sind. Die erste Sünde Adams kopiert sich in jedem neuen Menschen mit und bestimmt sein Wesen. Der Kopiervorgang (Geschlechtsverkehr) selber wird zum sündigen Akt, weil er von Begierde bestimmt ist. Die sexuelle Lust kontaminiert sozusagen das Geschehen und verunreinigt das Produkt gleich selbst mit. Ein Kind wird somit in Sünde gezeugt und empfangen. Ein Neugeborenes kommt mit diesem verhängnisvollen Defekt, diesem umfassenden Makel, diesem tiefgreifenden Fehler zur Welt. Es ist von Anfang an eingesperrt im Bereich der bösen Macht, gefangen im Kerker der Sünde. Es ist – vor jeder eigenen guten oder schlechten Tat in der Zukunft – schuldig vor Gott. Neugeborene sind bei Augustin strafmündig. Und Gott ist keiner, der seinen Zorn nicht selbst an hilflosen und unschuldigen Babys ausleben kann. Befreiung und Erlösung von dieser Erbschuld gibt es nach Augustin nur durch die Taufe. Darum hat sich im 5.Jh. die rasche Kindertaufe nach der Geburt als kirchlicher Brauch ergeben.

Ganz anders Pelagius (ca.350-420 n. Chr.), der in dieser Frage zum erbitterten Feind Augustins wurde: Pelagius vertritt die keltische Theologie. Er ist damit kein Sonderling. Alles, was er sagt, haben andere (nichtkeltische) Theologen vor ihm auch schon gesagt und gelehrt. Sie sind dafür nicht verurteilt oder als Ketzer gebrandmarkt worden. Pelagius ist jedoch zu seiner Zeit der Prominente dieser Richtung geworden. Er hat sich profiliert geäußert und musste für das, was Augustin bekämpfte, seinen Kopf und seinen Namen hinhalten. Er wurde damit zum Buhmann der Kirchengeschichte. Wo und wann immer man einer Lehre das Etikett „pelagianisch“ gab, war klar, was kirchlich zu verwerfen bzw. etwas Anderes anzuerkennen ist.

Bei Pelagius ist ein neugeborenes Kind unschuldig. Es anzuschauen kommt der Freude an Gott gleich. Das Neugeborene spiegelt die Herrlichkeit Gottes wider. Nach Pelagius wird ein Mensch nur dann schuldig, wenn er eine schlechte Entscheidung getroffen und daraus resultierend eine böse Tat begangen hat.

Pelagius und seine Anhänger forcierten die Kindertaufe nicht, wie es in der röm.-kath. Kirche immer mehr der Fall wurde. Sie lehnten die Kindertaufe aber auch nicht ab. Sie meinten folgerichtig, dass die Taufe für diese Kinder keine Sündenvergebung beinhalte, fanden es aber hilfreich, ein Kind schon früh in der Sphäre des Glaubens und des Geistes Gottes zu wissen. Diese unterschiedliche Sichtweise hatte Konsequenzen: in der Übergangszeit von keltischer Kirche zur Vorherrschaft Roms mahnten die katholischen Bischöfe bei den keltischen Geistlichen an, die ungetauften Kinder nicht mehr in geweihter Erde zu bestatten. Das haben die keltischen Priester nicht befolgt. Sie hielten an dem Brauch fest, ungetaufte Kinder stehend an der Kirchenmauer zu beerdigen. Auf die kritische Rückfrage nach der Taufe, wies man auf das Regenwasser vom Kirchendach hin, mit dem die Kinder getauft würden.

Pelagius lehrte: jeder Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen. Diese Gottesebenbildlichkeit setzt ihn in den Stand, Gutes und Böses unterscheiden zu können. Mit diesem Vermögen und dem freien Willen ausgestattet, soll der Mensch am Guten seinen Willen orientieren und – darauf kommt es an – auch tun. Durch das Tun des Guten verwirklicht sich der Mensch und erweist seinem Schöpfer Ehre. Damit wird das Geschöpf dem Schöpfer und der Mensch Gott ähnlich. Hilfsmittel auf diesem Weg ist das Gesetz (10 Gebote), das sich im Alten Bund jedoch als untauglich erwiesen hat. Besser und vollkommen ist Christus, der uns als Vorbild und Seelenfreund den guten Weg leitet. Gottes Geist zeigt uns das Gute und Vollkommene. Sinn und Ziel des Lebens ist darum Christusähnlichkeit.

Zwei Entwürfe für eine Menschheit. Augustin hat gewonnen. Er hat seinen Gegnern kein Pardon gegeben. Pelagius – und andere mit ihm – behandelten die Frage der Erbsünde so, dass sie eine Art religiöser Meinungsfreiheit voraussetzten. Das war auch nicht abwegig. Vor Augustin war das noch der Fall. Mit Augustin bekam diese Frage aber dogmatisches Format. Kein konkurrenzloses Nebeneinander von Meinungen. Nur entweder – oder. Damit wurde der Gegenwind schärfer. Es kam zu Anklagen und Streitgesprächen und theologischen Verhören.  Augustin verstand es ausgezeichnet, (kirchen-)machtpolitisch zu agieren. In seinem Machtbereich Nordafrika, führte er eine Verurteilung der pelagianischen Lehre (vertreten nicht von Pelagius selbst; Pelagius und Augustin sind sich wohl nie persönlich begegnet) herbei.

Diese Verurteilung ist von den Ostkirchen nie übernommen worden. Im Gegenteil. Man schrieb Gegendarstellungen und setzte sich von der Erbsündenlehre Augustins ab. Hier kommt die freundliche Brücke zum Tragen, von der anfangs die Rede war.

Unter dem Strich bleibt die Tatsache, dass Pelagius vor keinem kirchlichen Gremium als Irrlehrer verurteilt wurde. Dazu war er noch zu sehr Lehrer der „alten Schule“, die bis dahin eine theologische Daseinsberechtigung hatte. Den Endpunkt des Streites mit Augustin markiert die Verbannung Pelagius’ aus Rom. Diese Verbannung wurde vom Kaiser verfügt. Die Ursache der Verbannung liegt somit im Politischen und nicht im Theologischen. Die historischen Umstände legen es nahe, dass Augustin bzw. sein Dunstkreis durch politisch motivierte Anschuldigungen („Unruhestifter“) diese Verbannung veranlasst hatten. Einige Wochen später folgten die theologische Abrechnung und Verurteilung in Abwesenheit des Verbannten.

Erbsünde in der Bibel – Pustekuchen!

So weit der Streit. Im Weiteren geht es um Missverständnisse und Übersetzungsfehler. Augustin führt als biblischen Beleg für seine Lehre den Römerbrief Kapitel 5, Vers 12 an. Dieser Vers gehört zu einem Abschnitt, in dem Paulus  vom ersten Menschen (Adam) spricht, durch dessen Sünde der Tod in die Welt und zu allen Menschen gekommen ist. (Diesem alten) Adam wird dann Christus als neuer Mensch (neuer Adam) gegenüber gestellt. Durch Christus ist die Erlösung und das Leben als Überwindung des Todes in die Welt gekommen. Röm 5,12 leitet diesen Abschnitt ein: „Wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist, und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben.“

Diese Übersetzung entspricht dem griechischen Urtext. Augustin las allerdings aus der Vulgata, der lateinischen Übersetzung. Die Vulgata übersetzte das „weil“ des letzten Nebensatzes mit „in quo“, also „in welchem“.  Augustin las also „…, in welchem sie alle gesündigt haben.“ Dies bezog Augustin auf  Adam, in dem die ganze Menschheit gesündigt haben soll. Dieser Vers war im System Augustins der Dreh- und Angelpunkt für die biblische Begründung seiner Erbsündentheorie. Durch den Übersetzungsfehler, der durch Erasmus von Rotterdam vor 500 Jahren aufgedeckt wurde, verliert Augustin diese biblische Autorität.

Bei genauem Hinsehen hat Augustin in dieser Frage eine biblische Autorität auch nie gehabt. Aus heutiger Sicht hat Augustin mit seinem Erbsündenentwurf die ganze heilige Schrift missverstanden. Eine  einfache aber ebenso folgenreiche Erkenntnis ist die Tatsache, dass das Judentum (und damit das Alte Testament) eine Erbsündenlehre nicht kennt. D.h. für Christen, die ihre Wurzeln im jüdischen Glauben hatten (Petrus, Paulus etc.), gab es keine Erbsünde in irgendeinem Sinn, schon gar nicht im Sinne Augustins. Die heilige Schrift der Juden gibt das nicht her.

Der alttestamentliche Prophet Hesekiel setzt sich profiliert mit der damaligen Frage auseinander, ob die Söhne für die Sünden der Väter büßen müssten. Ein Denken, das sich in einer Redewendung konzentriert wiederfand: „Die Väter aßen saure Trauben und den Söhnen sind die Zähne davon stumpf geworden.“ (Hesekiel 18,2) Hesekiel macht deutlich, dass kein Mensch für die Sünde der Vorfahren verantwortlich gemacht werden kann. Es gibt die Möglichkeit der Umkehr und die Freiheit eines gerechten Lebens. Niemand darf für die Verfehlungen anderer zur Rechenschaft gezogen werden. Schuld und Strafe können nicht von Eltern auf Kinder übergehen.

Und das Neue Testament? Der christliche Glaube (wie auch der jüdische) weiß um die Macht der Sünde, den Zustand der Trennung von Gott und den Hang des Menschen zum Bösen. Dieses Wissen ist aber weit entfernt von dem, was Augustin als Erbsündenlehre erfunden hat. Schon früh in der Kirchen-geschichte haben Theologen sich gegen Elemente der Erbsündenlehre ausgesprochen: z.B. gegen die Diffamierung der Sexualität, wie sie bei Augustin in diesem Zusammenhang anzutreffen ist. Sie rückten stattdessen die Sexualität in die Nähe des Heiligen, weil sich darin die Leben schaffende Kreativität und Schönheit der Liebe Gottes abbildet. Besonders in der Ostkirche war es auch nicht die Sünde, auf die das Augenmerk gelegt wurde. Das Verhängnisvolle, das durch Adams Fall auf alle Menschen kam, war der Tod. Mit diesem anderen Thema war eine Spekulation über die Vererbung von Sünde weder angelegt noch notwendig.

Und Paulus? Auch in den Briefen des Paulus wird man keine Anhaltspunkte finden, die eine Erbsündenlehre im Sinne Augustins rechtfertigen könnten.

Was ist mit Jesus? Die Evangelien geben keinen Hinweis auf eine wie auch immer geartete Erbsünde. Im Gegenteil. Nimmt man z.B. die Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen im 9.Kapitel des Johannesevangeliums, liest man Erstaunliches: „Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“

Erbsünde – wer hat’s erfunden?

Augustin hat die Erbsündenlehre erfunden. Das habe ich oben behauptet und einen Beweis dafür in Aussicht gestellt. Was ist eine Erfindung? Etwas Neues, das es vorher so nicht gegeben hat. Der bisherige Befund besagt, dass weder das Judentum – und somit das Alte Testament – noch die Verkündigung Jesu oder das andere neutestamentliche Schrifttum einen Anhaltspunkt für die Erbsündentheorie Augustins bereit halten. Da, wo Augustin es angenommen hat (Röm 5,12), handelt es sich um einen Übersetzungsfehler. Augustin hat aber in dieser Sache nicht nur diese eine Stelle missverstanden, sondern die ganze Bibel. Gegenüber der Heiligen Schrift ist die Erbsündentheorie somit etwas Neues. Und man kann sagen: auch etwas Fremdes.

In der Auseinandersetzung mit Pelagius spitzt Augustin seine Gedanken über die Erbsünde zu und verleiht dem ganzen Thema ein Gewicht, das es vorher so nicht hatte. Bis zu diesem Streit gab es eine Meinungsvielfalt in der Sache. Mit Augustin wurde diese Vielfalt beendet. Er suchte eine dogmatische Entscheidung, eine aussortierende Klarheit der kirchlichen Lehre. Gegenüber der Tradition zur Zeit Augustins war die Erbsündenlehre etwas Neues. Das betrifft den Inhalt, wie auch das Format. Pelagius äußerte nicht nur eine vereinzelte Meinung, sondern repräsentierte das weit verbreitete Denken der damaligen Zeit. Pelagius wurde vor keinem kirchlichen Gremium verurteilt. Darum fand die Erbsündenlehre keinen Eingang in der Ostkirche. In der röm.-katholischen Kirche wurde sie jedoch zum Dogma erhoben. Im Westen hat die Sichtweise Augustins gewonnen. Die Kirchen der Reformation haben dies übernommen. Der Widerstand der Ostkirche und die ausbleibende Verurteilung des Pelagius durch kirchliche Instanzen machen deutlich, dass Augustin mit der Erbsündenlehre etwas Neues in die Theologie eingebracht hatte. Dieses Neue hat er – trotz Widerspruchs – machtpolitisch durchgesetzt und nachhaltig platziert.

Mag sein, dass diese Neuerung auch zeitgeschichtlich bedingt war. Der Streit zwischen Augustin und Pelagius fällt in eine Zeit gravierender Umbrüche. Das römische Reich verliert seine Stabilität unter dem militärischen Druck der Vandalen. Die Goten haben Rom erobert. Das Weltreich ist dem Untergang geweiht. Die einst verfolgte christliche Minderheit wird vom Kaiser zur Reichsreligion gemacht. Mit dem politischen Umbruch geht ein geistiger einher. Das alte Denken verliert an Boden. Die Kirche muss sich neu aufstellen, um dem gegebenen Format gewachsen zu sein. Augustin hat diese Aufgabe erkannt und erfüllt. Der Machtanspruch des Kaisers wird schon bald auf den Bischof von Rom übergehen. Mit der Erbsündenlehre als Pauschalurteil und der (Kinder)Taufe hat die Kirche etwas in der Hand, das die Menschen an sie bindet. Gut ist dran, wer bei einer diagnostizierten Krankheit das richtige Gegenmittel bereit hält. Augustin hat als erster Theologe sogar die gewaltsame Durchsetzung kirchlicher Ziele legitimiert und selbst angewendet. Pelagius dagegen hatte kein Interesse an einer staatstragenden Kirche. Er war der Vertreter eines Modells, das zurück zu den Anfängen der Kirche wollte und sich am Urchristentum orientierte. Allein die Frage der kirchlichen Hierarchie wie es das Modell des Pelagius mit sich brachte, hätte bei Augustin wohl nur das eine Urteil hervorgerufen: zu flach.

Folgerung 1: abschaffen

Aus dem, was ich oben als Befund beschrieben habe, sind Konsequenzen abzuleiten. Ein Dogma hat in der Kirche zwei Kriterien zu erfüllen: ein Dogma muss schriftgemäß und zeitgemäß sein. Was das Schriftmäßige angeht, ist das Ergebnis deutlich ausgefallen. Das allein müsste ausreichen, um die Erbsündenlehre in der evangelischen Kirche abzuschaffen. Das Zeitgemäße habe ich nicht weiter vertieft. Es liegt jedoch auf der Hand, dass es eine Vielzahl von geistes- und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gibt, die gegen Augustins Erbsündentheorie sprechen. Des weiteren frage man Gläubige, vor allem betroffene Eltern, ob sie davon ausgehen, dass auf ungetauft verstorbene Kinder die ewige Verdammnis wartet. Kirchenväter und Konzile können sich irren. Das ist reformatorisches Gedankengut. Das schließt die Aussage ein: Reformatoren und Bekenntnisschriften können sich irren. Vielleicht gibt es ja eine Synode, die bei der offiziellen Abschaffung der Erbsündenlehre den Anfang macht.

Folgerung 2: neu denken

Ein neues Denken wird auf jegliche Art von Rettung der abgeschafften Erbsündenlehre verzichten. Es gibt gegenwärtig einige Versuche, bestimmte Elemente der Erbsündenlehre für den modern denkenden Menschen aufzubereiten. M.E. reicht es, das, was die Bibel zur Sünde und zum Verhängnischarakter von Schuld sagt, theologisch aufzuarbeiten und dem heute eine Sprache zu geben. Wir wollen ja die Bibel verstehen und auslegen und nicht ein kirchliches Dogma retten, das biblisch unhaltbar ist.

Zu diesem Versuch gehört z.B., die biblischen Texte in ihrer Eigenart zu verstehen. So sind die ersten drei Kapitel der Bibel (Genesis 1-3) und der oben erwähnte  Abschnitt „Adam und Christus“ (Römerbrief 5,12-21) geprägt von mythischem Denken. Im letzten Jahrhundert ist dieses Denken als irrational verdächtigt und für den modernen Menschen als unzumutbar dargestellt worden. Der Philosoph Kurt Hübner hat nachgewiesen, dass der Mythos nicht als irrational bezeichnet bzw. abgetan werden darf. Dem Mythos liegen formallogisch rationale Strukturen zu Grunde. Darum ist es wichtig, mythisches Denken zu verstehen und nicht zu diffamieren. Es liegt im Wesen mythischen Denkens, Teil und Ganzes zusammen zu bringen, sowie Vergangenes gegenwärtig machen zu können. Ein Mensch kann sich und seine Lebensbedingung bzw. die Lebensbedingung der Menschheit in den ersten drei Kapiteln der Bibel wiederfinden. Denn darin wird die Welt erklärt und das Leben, wie wir es vorfinden. Ebenso kann man sich gemäß Römer 5 als sündiger Mensch mit Adam identifizieren, dem Anfänger des Misstrauens gegen Gott. Und gleichzeitig kann ich von Christus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens hören, in dem ich von der Sünde erlöst bin und ewiges Leben habe. In und mit Adam bin ich Teil der sündigen Menschheit. In Christus habe ich Teil an der Erlösung, die allen Menschen gilt.

„Neu denken“ sollte sich auch auf die Ausbildung eines Menschenbildes beziehen, das mehr im Blick hat, als nur das Defizitäre. Hier gibt es sogar einen positiven Ansatzpunkt bei Augustin. Von ihm stammt der Satz: „Die Sehnsucht Gottes ist der Mensch“. Dieser eine Satz könnte genügen, um eine neue Sicht auf den Menschen herbeizuführen. Diese Sicht wird etwas von der Menschenfreundlichkeit Gottes in Christus zu sagen haben (Titusbrief 3,4). Sie könnte sich orientieren an der Liebe des dreieinigen Gottes als Quelle des Lebens. Diese Quelle würde etwas mit Freiheit zu tun haben, die zum Wesen der Liebe gehört. Diese neue Sicht wüsste auch etwas von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, die durch die Sünde nicht zerstört werden kann. Wer mit einer solchen Sicht ernst macht, wird sich darin üben, den letzten Satzteil des Sinnspruches auf jeder Jägermeisterflasche zu beherzigen: „…den Schöpfer im Geschöpfe ehrt.“  Damit würden wir dem ähnlich werden, der uns in den Menschen begegnet, bei denen wir es nicht erwartet hätten: den Geringsten. Mit den Geringsten ist der Anfang gemacht .

Am Ende der Anfang

Apropos Anfang. Mit „Pustekuchen“ fing alles an. Am Ende dieses Essays steht der Wunsch, dass er ein Beitrag sein möge dazu, ein passendes Wort in den Sinn zu bekommen, wenn es um Erbsünde geht: Pustekuchen.

Bibliographie

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  • Baltes, Steffi: Sie hörten auf den Herzschlag Gottes. Inspirationen aus dem Leben der irischen Christen, Marburg 2005
  • Bonner, Gerald: Artikel „Pelagius/Pelagianischer Streit“ in: Theologische Realenzyklopädie (TRE) Bd.26, Berlin, New York 1996, S.176-185
  • Flasch, Kurt (Hrsg.): Logik des Schreckens, Augustinus von Hippo. Die Gnadenlehre von 397, Mainz 2012 (3.Aufl.)
  • Greshake, Gisbert: Gnade als konkrete Freiheit. Eine Untersuchung zur Gnadenlehre des Pelagius, Mainz 1972
  • ders.: Gottes Heil – Glück des Menschen. Theologische Perspektiven, Freiburg i.B. 1983
  • Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos, München 1985
  • O’Donohue, John: Anam Cara. Das Buch der keltischen Weisheit, München 2012 (20.Aufl.)
  • Pröpper, Thomas: Theologische Anthropologie 2. Teilband, Freiburg i.B. 2012 (2.Aufl.), S.981-1156
  • Newell, Philip: Listening for the Heartbeat of God, New York  Mahwah/New Jersey 1997
  • ders.: Mit einem Fuß im Paradies. Die Stufen des Lebens im keltischen Christentum, Freiburg i.B. 2003
  • Thier, Sebastian: Kirche bei Pelagius, in: Patristische Texte und Studien; Bd..50, Berlin 1999
  • Wikipedia-Artikel zu  „Erbsünde“, „Pustekuchen“ und „Grüß Gott“
  • Young, William Paul: Die Hütte. Ein Wochenende mit Gott, Berlin 2011
  • Zimmer, Heinrich: Pelagius in Irland. Texte und Untersuchungen zur patristischen Litteratur, Berlin 1901

Cinegraphie

  • Pollack, Kay: Wie im Himmel, Schweden/Dänemark 2004